Am 31. Oktober des Jahres 1918 kletterten acht uniformierte Soldaten über den eisernen Zaun seiner Villa an der Hermina Strasse in Budapest. Kurze Zeit später war der berühmte Politiker István Tisza tot.
Der 1861 geborene Graf István Tisza war von 1903 bis 1905 und 1913 bis 1917 Ministerpräsident Ungarns. Der konservative Politiker gehörte wegen seiner Rolle beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs zu den meistgehassten Menschen in Europa. Für viele war er ein Kriegstreiber und wurde auch für das Elend des ungarischen Volkes verantwortlich gemacht. Tisza galt als einer der mächtigsten Politiker der Österreichisch-Ungarischen Monarchie. Aus Sicht heutiger Historiker erfolgten viele dieser Vorwürfe allerdings zu Unrecht.
Vor seiner Ermordung wurden bereits drei Anschläge gegen den Grafen verübt. Während einer Sitzung am 7. Juni 1912 zog der Politiker Gyula Kovács mit den Worten «Hier ist noch ein Oppositioneller!» im Budapester Parlamentsgebäude einen Revolver und schoss dreimal auf Tisza. Alle drei Kugeln verfehlten ihr Ziel. Mit der vierten Kugel versuchte Kovács sich selbst zu richten und schoss sich in den Kopf. Allerdings überlebte er den Selbstmordversuch. Nach dem Zwischenfall liess Graf Tisza die Sitzung weiterlaufen. Der Attentäter wurde später vor Gericht mit Berufung auf schwere psychische Störungen freigesprochen. Das zweite Attentat wurde durch einen desillusionierten Husar-Offizier verübt, als Tisza von der Front zurückkehrte. Die Kugel traf aber auch diesmal nicht. Das dritte Attentat erfolgte am 16. Oktober 1918. Der Kommunist János Lékai, Mitglied des berühmten Galilei Kreises und der Antimilitärischen Bewegung, versuchte Tisza zu erschiessen. Hierbei war er aber auch nicht erfolgreicher als seine Vorgänger, denn seine Pistole versagte. So vermochte ihm Tisza die Waffe zu entreissen. Lékai kam ins Gefängnis, wurde aber bereits 15 Tage später, während der Asternrevolution befreit.
Das vierte Attentat überlebte Graf István Tisza nicht. Nachdem sich die acht Männer an jenem 31. Oktober 1918 Zutritt zum Gelände verschafft hatten, entwaffneten sie die als Wache abgestellten Gendarmen. Vier Männer blieben vor dem Gebäude stehen, während die vier anderen die Villa betraten. Der Hausdiener László Dömötöri beobachtete die Eindringlinge voller Schrecken und machte beim Grafen sofort Meldung. Doch dieser winkte nur ab: «Haben Sie keine Angst, sie werden weggehen». Tisza sollte sich diesmal irren. Kurz darauf nahm einer der Attentäter im Flur Stellung, die anderen drei betraten die Halle der Villa. In diesem Moment kam István Tisza in den Raum, in seiner Hand hielt er einen Revolver. Zu seinen beiden Seiten standen seine Frau Ilona und seine Nichte Gräfin Denise Almássy. Zu dritt blickten sie in die Augen der drei Attentäter. «Was wollen Sie von mir?», fragte der Graf, woraufhin einer der Uniformierten ihn aufforderte, die Waffe niederzulegen. Gemäss der damaligen Berichterstattung legte der Graf nach einem kurzen Wortgefecht aus Rücksicht auf die beiden Frauen seine Schusswaffe auf ein Möbelstück, welches zu seiner Rechten stand. Danach entbrannte ein heftiger Streit zwischen den Männern. Die Soldaten machten Tisza für die Schrecken des Ersten Weltkriegs verantwortlich, während dieser sich verteidigte.
«Wissen Sie, dass ich wegen Ihnen seit acht Jahren Militärdienst leiste? Wissen Sie, dass Sie diesen Krieg verursacht haben und wegen Ihnen viele Millionen Menschen gestorben sind? Wissen Sie, dass dies ein Verbrechen ist?», fragte einer der Männer aufgebracht.
«Ich weiss, dass viele Millionen Menschen gestorben sind, dies schmerzt mich auch, aber ich bin nicht die Ursache hierfür», so der Politiker.
Dann rief einer der Mörder: «Die Frauen sollen weggehen!».
Gemäss der damaligen Zeitung «Est» dachte seine Frau aber nicht einmal daran, ihren Mann allein zu lassen und versuchte ihn durch ihren eigenen Körper zu schützen, indem sie vor ihn trat. Gräfin Almássy lehnte sich an die Schulter ihres Onkels, um ihn so zu verteidigen. Trotzdem fielen die tödlichen Schüsse. Der Mörder schoss insgesamt viermal, zwei Kugeln trafen den Grafen. Ein Geschoss traf ihn an der Brust, das andere am Bauch, die zwei weiteren drangen in umherstehende Möbel. István Tisza fürchtete den Tod nicht, er unternahm keinen Fluchtversuch, obwohl er dazu Gelegenheit gehabt hätte. Seine letzten Worte waren: «Dies musste so geschehen». Danach fiel er mit dem Gesicht nach vorne auf den Teppich. Die Schüsse haben auch seine Nichte verletzt. Vermutlich war es ein Streifschuss, der sie am rechten Ohr und im Gesicht verwundete.
Im Zusammenhang mit dem Attentat an István Tisza kam es erst am 2. August 1920 zur Gerichtsverhandlung. Für den Mord waren vier Männer angeklagt. Zwei davon, István Dobó (31) und Tibor Sztanyovszky (24), wurden zum Tod am Galgen verurteilt, Sándor Hüttner (23) bekam 15 Jahre Gefängnis, während der vierte, Jenö Wilhelm Vágó (31) freigesprochen wurde. Während der Gerichtsverhandlung hatte es sich herauskristallisiert, dass es sich bei dem Attentat um einen Auftragsmord handelte.
In einer späteren Gerichtsverhandlung wurde der Journalist Pál Kéri wegen Auftragsmord zum Tode verurteilt. Dieser sass aber nur für eine kurze Zeit im Gefängnis, denn die Sowjetunion tauschte ihn gegen einen Kriegsgefangenen aus. Für viele stand aber damals fest, dass hinter Kéri noch ein weitaus mächtigerer Auftraggeber stand: Graf Mihály Károlyi. Dies vermutete auch die zwischen den beiden Weltkriegen bekannte Schriftstellerin Cécile Tormay. Károlyi war ein verbitterter Gegner Tiszas und hasste ihn regelrecht. Ob er aber tatsächlich hinter dem Attentat stand, werden wir wahrscheinlich nie erfahren.
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